Frank Richter hat zehn Jahre auf der Straße gelebt. 2016 entschließt er sich, Hilfe anzu- nehmen – und zieht in eine eigene Wohnung. Heute unterstützt er bei Housing First andere bei der Wohnungssuche. dialog No. 5 „Das Besondere bei Housing First ist, dass wir einen anderen, neuen Weg gehen als das bisherige Hilfesys- tem für Wohnungslose“, sagt die Lei- terin Corinna Münchow. Der alte Weg basiere auf der Annahme, dass ein wohnungsloser Mensch sich seine Rückkehr in eine Wohnung erst ver- dienen muss, indem er seine Wohn- fähigkeit Schritt für Schritt unter Beweis stellt, so beschreibt es Volker Busch-Geertsema, Soziologe und Ex- perte für Wohnungslosenpolitik. Zuerst geht es in die Notunter- kunft, dann in eine Gemeinschafts- unterkunft, danach komme ein Trai- ningswohnen in einer betreuten Wohn- gemeinschaft, anschließend eine normale Wohnung mit einem speziel- len Mietvertrag, also einem befristeten Aufenthalt, und erst dann die soge- nannte Finalwohnung des ersten Woh- nungsmarktes. Das Problem mit die- sem System sei, so der Soziologe in seinen Publikationen, dass es zu viele Maßnahmen sind, die zu lange dauern, und die Menschen frustriert aufgeben und wieder auf der Straße stehen. „Unser Angebot ist für Menschen, die auf der Straße leben oder in einer dieser Hilfen feststecken und nicht weiterkommen“, sagt Leiterin Corinna Münchow. Zwei, drei Gespräche führen sie mit ihren Klient*innen. Sie wollen herauszufinden, ob diese ernsthaft den Sprung in ein neues Leben mit einer Wohnung machen wollen und ob sie dafür bereit sind, ins System zurückzukehren. Wenn ja, dann sind die ersten Schritte bürokratischer Art. Meldeadresse, Krankenkasse, Grundsicherung und Mietübernahme durch das Sozialamt. Bei all diesen Gängen hilft zum Beispiel Frank. „Ich sage den Menschen, dass ich auch obdachlos war, dadurch kann ich ihre Ängste auffangen. Bei mir müssen sie sich nicht schämen, weil ich das auch hinter mir habe“, sagt er. Nach der Bürokratie dauert es noch sechs bis acht Wochen, bis sie eine passende Wohnung gefunden haben. „Nicht jeder Ort ist für jeden geeignet. Die einen würden in einem anonymen Hochhaus untergehen, für die anderen ist das genau das Richtige“, sagt Münchow. Dafür arbei- ten sie eng mit den Städtischen Wohnungsbau- gesellschaften zusammen, aber auch mit großen 23 und kleinen privaten Wohnungsan- bietern. „Dieser Moment, wenn dann je- mand in seiner neuen Wohnung steht, ist etwas Besonderes“, sagt Münchow. Manche der Klient*innen sind sprach- los, andere weinen, wieder andere tan- zen vor Freude. Eine alte Dame haben sie in einer wirklich schicken Woh- nung in einer privaten Wohnungsbau- genossenschaft unterbringen können. Die Dame hätte sich wochenlang nicht getraut, ihre Sachen auszupacken, weil sie es nicht fassen konnte, dass die Wohnung jetzt wirklich für sie sein sollte. Nach dem Einzug werden die Men- schen nicht alleingelassen, sondern je nach Problemlage und Wunsch weiter- betreut. Die einen brauchen Hilfe bei der Haushaltsführung und Geldeintei- lung. Andere sind einsam, weil ihr altes Umfeld aus der Zeit der Woh- nungslosigkeit plötzlich weggebro- chen ist. Wieder andere wünschen sich Hilfe beim Kontaktaufbau zur Familie. Die nächsten sind süchtig oder haben psychische Probleme, die sie jetzt mit Hilfe einer Therapie angehen können. „Von der Straße aus eine Sucht zu bekämpfen, ist nahezu unmöglich. Erst die Wohnung schafft Stabilität“, sagt Münchow. Noch ist Housing First Berlin ein auf drei Jahre angelegtes Pilotprojekt der Stadt, das wissenschaft- lich begleitet wird. Seit dem Start im Oktober 2018 konnten 66 Mietverträge abgeschlossen werden, wovon die allermeisten immer noch bestehen. Nur ein Mietvertrag wurde beispielsweise wegen Miet- schulden wieder beendet. Eine Verlängerung von Housing First ist beantragt. Frank ist glücklich mit seinem „dritten Leben“, wie er es nennt. Es gibt nur zwei Dinge, die ihn noch begleiten. „Ich kann mich nicht riechen, das habe ich auf der Straße verloren. Deswegen weiß ich auch nicht, wenn ich stinke“, sagt er. Er dusche zwar jeden Tag. „Trotzdem sage ich zu jedem hier, dass er mir Bescheid sagen soll, wenn ich stinke.“ Das andere sei der Alkohol, vor dem er sich wei- terhin in Acht nimmt. Keine einzige Ausnahme. Denn die Sucht ist ja immer noch da. Frank, so scheint es, hat seinen Platz und sein Zuhause gefunden.