Beziehungsarbeit im virtuellen Raum

Bei der Diakonie Düsseldorf gehören Reisen in virtuelle Welten zum Konzept

Text: Carolin Scholz, Fotos: David Ertl

Als Max die VR-Brille abnimmt, hat er einen roten Kopf und ein Grinsen auf dem Gesicht. „Ich hab viel öfter getroffen als du“, sagt er in Richtung seiner Mutter. Die nimmt es gelassen. Sie gönnt ihrem Sohn das Erfolgserlebnis. Der 14-Jährige hat eben schneller verstanden, wie mit Pfeil und Bogen umzugehen ist. Gerade haben die beiden zusammen eine knappe halbe Stunde versucht, sich den Weg aus dem Keller eines antiken griechischen Tempels zu bahnen – eine Art Escape-Room-Spiel in einer virtuellen Welt.

VR steht für Virtual Reality, also virtuelle Realität. Von außen wirken die Brillen wie eine Art Helm. Die Spieler*innen schauen durch zwei Linsen, die den Blick durch ein Fernglas suggerieren. So taucht man in eine virtuelle Welt ab, was durch die integrierten Kopfhörer an den Seiten noch weiter verstärkt wird. In den Händen haben die Spieler*innen je einen Controller, mit denen sie in der virtuellen Welt zum Beispiel greifen, werfen oder anders interagieren können.

Die VR-Spiele sind Teil eines Projekts der heilpädagogischen Tagesgruppen der Diakonie Düsseldorf. Seit 2020 kommen Eltern und Kinder immer wieder in den VR-Raum im Dachgeschoss am Oberlinplatz. Dort können sie Unterwasserwelten erkunden, Montagsmaler im virtuellen Raum spielen oder Rätsel lösen wie Max und seine Mutter Karin Fritz.

Spannungsfreies Spiel

„Grundidee ist es, die Technik zu nutzen, um Familien wieder besser in Kontakt zu bringen“, sagt Matthias Hainski, Teamleiter einer heilpädagogischen Tagesgruppe. Der VR-Raum soll ein Ort für spannungsfreie Kommunikation für Eltern und Kinder sein – sie sammeln hier gemeinsam positive Erlebnisse. Außerdem sind die Spiele oft kooperativ – Elternteil und Kind müssen also miteinander sprechen und zusammenarbeiten, um Rätsel und Aufgaben zu lösen.

Zu Beginn ihres Abenteuers landen Max und Karin Fritz in einem dunklen Raum. Nur eine Fackel beleuchtet die Wände. Nach kurzem Umsehen stellen beide fest, dass sie allein sind – Max ist in einem anderen Raum als seine Mutter. Doch da ist eine Tür. Verschlossen. An einer der Wände entdeckt Karin Fritz mehrere Schlangen aus Gold. An manchen Stellen sind sie beweglich und verschoben – der Schlangenkörper also unterbrochen. Sie probiert es zuerst aus: Dreht man diese Stellen so, dass sie sich passend in den Körper der Schlange einfügen, bewegt sich anderswo im Raum etwas. Und plötzlich lässt sich die Tür öffnen. „Max, ich hab’s“, sagt Karin Fritz und erklärt ihrem Sohn, was er tun muss. Beide können in den nächsten Raum eintreten – zusammen.

Wissensvorsprung für die Eltern

Vor der ersten gemeinsamen VR-Sitzung treffen die Verantwortlichen Matthias Hainski und Carina Otto die Eltern erst einmal alleine. Bei diesem Treffen versuchen sie herauszufinden, welche Spiele für das Kind geeignet sind. Hat Sohn oder Tochter vielleicht Angst vor der Unterwasserwelt oder vor Höhen? Noch viel wichtiger aber: Die Eltern probieren die VR-Technik schon einmal alleine aus und machen sich mit ihr vertraut. So haben sie einen kleinen Wissensvorsprung, wenn das erste Spiel mit Kind auf dem Plan steht.

„Die Eltern sollen von ihren Kindern als kompetent wahrgenommen werden“, sagt Carina Otto, die auch eine der Tagesgruppen leitet. Viele hätten weniger Berührungspunkte mit neuer Technik als ihre Kinder. Bei dem ersten Treffen können sie schon einmal alleine üben. Für Max und Karin Fritz ist es aber lange nicht das erste Mal. Sie gehören zu einer der Familien, die von Anfang an dabei waren. Auch deshalb spielen sie für fast eine halbe Stunde. „Da tasten wir uns immer erst einmal ran“, sagt Matthias Hainski.

Die virtuelle Welt kann fordernd sein. Das Spielen darin anstrengend. Anfangs spiele man eher kurze und einfache Spiele und mache viele Pausen dazwischen. Auch um sogenannter Motion Sickness vorzubeugen – manchen Spieler*innen wird beim Spielen übel oder schwindlig. Auch die Nachbereitung mit den Pädagog*innen ist wichtig. Sich nach dem Spielen über das Gesehene, Erfahrene und Erlebte auszutauschen und wieder in der realen Welt anzukommen. „Am besten fand ich das Bogenschießen“, sagt Max dann etwa. Und: „Da am Anfang, da war ich echt verzweifelt.“

Matthias Hainski und Carina Otto begleiten Eltern und Kind aber auch während des Spiels. Zwar ist der Raum am Oberlinplatz recht groß und frei geräumt, wenn die Spielenden aber sehr vertieft in ihr Spiel sind, kommt es vor, dass sie sich unbewusst bewegen. Doch die beiden verhindern nicht nur, dass Max und seine Mutter der Wand zu nah kommen, sie erinnern sie auch daran, zu kommunizieren. Auf zwei Bildschirmen können sie das sehen, was auch die Spielenden sehen. „Max, sag doch mal der Mama, wie du das gerade gemacht hast“, sagt Matthias Hainski immer wieder und Max erklärt.

Kinder stärken

Denn es geht im VR-Raum eben nicht nur um den Spaß am Spiel, sondern auch um die Kommunikation. Das Angebot richtet sich an die Kinder in den heilpädagogischen Tagesgruppen und ihre Eltern. In einer Gruppe werden höchstens sieben Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren von drei studierten Pädagog*innen betreut. Die Kinder, die diese Gruppen besuchen, tun das aus unterschiedlichen Gründen. Manche haben Traumaerfahrungen, manche emotional-sozialen Förderbedarf. Manchmal können sich die Eltern nicht so kümmern, wie sie möchten, weil sie selbst eine psychische Erkrankung haben. Manche der Kinder haben Autismus, Sozial- oder Bindungsverhalten sind gestört oder ihnen fehlt es an Impulskontrolle. Manche haben auch ADS oder ADHS – so wie Max.

Er war ungefähr von der 2. bis zur 5. Klasse in einer der Tagesgruppen. Vorher hatte er in der Schule einen Integrationshelfer, doch die Eltern merkten bald, dass er mehr Förderung braucht. „Die Tagesgruppe war für uns wie ein Sechser im Lotto“, sagt Karin Fritz. Am Anfang setzen Eltern und Kinder dort ein Ziel, das durch die Betreuung erreicht werden soll. Für Max’ Eltern war das, dass er in der Schule besser klarkommt, vor allem emotional. Viele Eltern von Kindern mit ADHS bekommen aus der Schule sehr viel negative Rückmeldung. „Die Familien sind oft sehr demotiviert, wenn sie zu uns kommen“, sagt Tanja Peters, die das Sachgebiet der heilpädagogischen Tagesgruppen der Diakonie Düsseldorf leitet. In der Zusammenarbeit mit Eltern und Kind werde versucht, den Blick wieder mehr auf die Stärken und positiven Eigenschaften des Kindes zu lenken.

Begrenzte Bildschirmzeit

Das VR-Projekt fügt sich in dieses Vorhaben ein – und ist doch ungewöhnlich. Es gibt bislang noch kaum andere Projekte, in denen VR-Technik im heilpädagogischen Kontext eingesetzt wird. Auch wenn in der pädagogischen Arbeit die Nutzung von Medien nicht pauschal abgelehnt wird, wird sie doch kritisch betrachtet. Die tägliche Bildschirmzeit versuchen Eltern eher zu begrenzen. Auch Max’ Eltern.

Für Karin Fritz ist das gemeinsame Spielen im VR-Raum aber doch anders. „Es ist spannend, mit ihm zusammen in so ein Medium einzusteigen“, sagt sie. Max spiele eben nicht alleine und sei in seiner eigenen Welt, sondern teile die Freude am Spiel mit seinen Eltern. „ Das können schöne Anknüpfungspunkte sein, um wieder mehr in Kontakt zu kommen“, sagt Tanja Peters. „Das ist Zeit, die wir nur für uns haben“, sagt Karin Fritz.

Die Erlebnisse im VR-Raum sind danach oft noch Gesprächsthema. Je regelmäßiger die Termine, desto besser können Matthias Hainski und Carina Otto auch die Entwicklung der Kinder mit ihren Eltern erkennen. „Max war am Anfang immer sehr auf sich konzentriert“, sagt Matthias Hainski, „aber mit der Zeit hat er immer mehr auf seine Mutter geachtet und gehört.“ Was die beiden Verantwortlichen am Projekt aber besonders freut: Alle, die mitmachen, gehen immer mit einem guten Gefühl und einem Lächeln im Gesicht nach Hause. Und können den nächsten Termin kaum erwarten.  

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