Seit drei Tagen ist es still in dem rot verklinkerten Reihenmittelhaus am Ende einer Sackgasse in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf. Marina und Teo* sitzen alleine in ihrem Wohnzimmer. Mats ist ausgezogen. Sechs Monate hat der Junge hier gelebt, war Teil der Familie. Vor ein paar Wochen haben sie noch gemeinsam seinen zweiten Geburtstag gefeiert. Jetzt ist er in eine Dauerpflegefamilie gewechselt. Auf dem Kaminsockel in der Ecke steht verloren ein kleiner gelber Spielzeugbagger aus Kunststoff. Ansonsten erinnert in dem Raum auf den ersten Blick nichts mehr an den kleinen Jungen.
Seit beinahe 30 Jahren sind Marina (61) und Teo (65) als Bereitschaftspflegeeltern bei Anruf Eltern. Sie nehmen Kinder auf, die von jetzt auf gleich aus ihrer Herkunftsfamilie genommen werden mussten. Marina hat ihr Smartphone deshalb immer dabei, wenn sie einen freien Platz gemeldet hat. Es ist bereits vorgekommen, dass sie im Supermarkt an der Kasse stand, als sie einen Anruf der Diakonie Düsseldorf mit der Frage bekam, ob sie ein Kind aufnehmen möchte. „Wenn es langsam geht, dann hat man ein bis zwei Tage Zeit zur Vorbereitung. Zum Beispiel, wenn das Kind im Krankenhaus ist.
Die Kinder bleiben in der Regel drei bis sechs Monate bei der Familie
Aber es kann auch sein, dass man innerhalb der nächsten Stunde das Kind abholen muss“, berichtet sie. „Es kommt vor, dass ich gerade mal weiß, wie alt das Kind ist und welches Geschlecht es hat“, erzählt Marina weiter. „Manchmal wissen wir gar nichts“, ergänzt ihr Mann Teo. Einmal wurden sie gefragt, ob sie Geschwister aufnehmen würden. „Ja, natürlich haben wir das gemacht“, sagt Marina und lacht. Dann zogen zwei Mädchen im Alter von zweieinhalb und viereinhalb Jahren für ein paar Monate bei ihnen ein. Die Kinder bleiben im Rahmen der Bereitschaftspflege in der Regel drei bis sechs Monate bei der Familie. Oder länger. „Man sollte flexibel sein und nicht davon ausgehen, dass ein Kind tatsächlich nur drei oder sechs Monate bleibt. Es könnten auch zwei Jahre werden. Das weiß man vorher nicht“, erklärt die energiegeladene Frau mit den kurzen grauen Haaren.
Plötzlich Pflegeeltern
Das Leben als Bereitschaftspflegeeltern hatten Marina und Teo nicht geplant: Eine Zufallsbekanntschaft im Urlaub hatte die damals jungen Eltern einer Tochter auf die Idee gebracht, die sie nicht mehr losließ. Nach dem Urlaub stiegen sie immer tiefer in das Thema und schließlich in die Vorbereitungen ein. Denn Interessent*innen müssen zuerst eine Reihe von Kriterien erfüllen und ihre Eignung nachweisen, bevor ein Kind zu ihnen in Pflege kommt. Dazu gehörte auch, dass Marina und Teo für sich verabredet haben, dass Marina keine weitere berufliche Karriere als Veranstaltungsmanagerin macht und die Mutterrolle in Vollzeit übernimmt. Denn mindestens ein Bereitschaftspflegeelternteil muss manchmal sehr kurzfristig reagieren und sich jederzeit dem Bedarf des Kindes anpassen können.
Um den finanziellen Aufwand auszugleichen, erhält die Familie ein Pflegegeld und einen Erziehungsbeitrag. Marina hat es gerne gemacht und die Entscheidung nie bereut. Als die Beiden bereit waren, zog damals überraschend schnell ein kleines Mädchen, Johanna, für acht Wochen bei ihnen ein. Von da an waren sie Bereitschaftspflegeeltern für Kinder im Alter bis zu drei Jahren. Trotz zwei weiterer eigener Kinder und eines Hausbaus, folgten auf Johanna – mit zwischenzeitlichen Pausen – immer weitere Kinder. Viele sind später zurück zu ihren Eltern gegangen, einige zogen weiter zu Dauerpflegeeltern, ganz wenige wurden von neuen Eltern adoptiert.
Mit der Zeit kommt Routine
Die Beiden sind über die Jahre ein eingespieltes Team und auf alle Eventualitäten gut vorbereitet: Im ersten Stock ihres Hauses ist neben dem Zimmer ihres jüngsten leiblichen Sohnes auch das Kinderzimmer, das zuletzt Mats bewohnt hat. Hinter der Tür befindet sich ein kleines Kinder-Traum-Land mit bunter Tapete, Stofftieren, Spielzeugautos, Regalen voller Kinderbüchern und einem Wickeltisch. In einem anderen Raum unterm Dach lagert in einem riesigen, fünf Meter langen Schrank Kleidung von Größe 46 bis 104, für Jungen und Mädchen. Auch im Haus vorhanden: Spielzeuge, Bücher, Schlafsäcke, zwei Betten, ein Kinderwagen, eine Babyschale, verschiedene Buggys, Laufräder, ein Dreirad, eine Rutsche für den Garten und sogar eine Sandkiste. Die Familie ist nach den Jahren und aufgrund der umfangreichen Unterstützung seitens der Diakonie und ihres Netzwerks, aber auch aus dem Freundes und Bekanntenkreises sehr gut ausgestattet. Und immer, wenn ein Kind weiterzieht, bekommt es einige seiner Lieblingsspielsachen mit auf den Weg.
Viele Kinder brauchen psychologische, ergotherapeutische oder logotherapeutische Hilfen. „Über die Jahre habe ich mir ein Netzwerk geschaffen“, erklärt Marina. „So komme ich dann auch schneller an Termine, denn es ist bekannt, dass die Kinder nur kurze Zeit bei mir bleiben und sie deswegen noch schlechter als andere auf Behandlung oder Therapie warten können.“ Auch hier hilft im Notfall ein Anruf bei der Diakonie, die dann alle Hebel für Kind und Familie in Bewegung setzt.
Die Frau mit dem Kinderwagen
In ihrem Dorf ist Marina die Frau, die seit 30 Jahren Kinderwägen schiebt. Immer wieder wird sie auf der Straße und in den Läden angesprochen. Nie gab es Probleme, nur einmal sehr verwunderte Blicke, als sie ein Kind betreute, dass deutliche Folgen eines Schütteltraumas aufwies. Teos Arbeitskolleg*innen sind inzwischen daran gewöhnt, dass eine Videokonferenz mal lautstark unterbrochen werden kann. Kritik gab es jedoch – völlig überraschend – im Bekanntenkreis. Die Zwei nehmen es mit Humor. „Das ist vermutlich eine Sache des Alters“, sagt die 61-Jährige augenzwinkernd. „Bei denen sind die eigenen Kinder bereits aus dem Haus und damit nimmt offensichtlich das Verständnis für ein schreiendes Kleinkind, dass ein gemütliches Abendessen unterbricht, ab. Aber da müssen die dann halt durch.“ Marina und Teo zucken mit den Achseln und lachen. „Vielleicht ändert es sich wieder, wenn sie selbst Großeltern werden.“
Die eigenen drei Kinder – inzwischen 30, 26 und 21 Jahre alt – haben die ständigen neuen Geschwister auf Zeit immer gut aufgenommen. „Hätten sich ernsthafte Widerstände, Eifersucht oder ähnliches gezeigt, hätten wir das nicht weiter gemacht“, erzählt Marina. Für sie und Teo waren die Pflegekinder immer eine Familienangelegenheit. Auch heute springen die inzwischen erwachsenen eigenen Kinder als Babysitter ein, oder sie unternehmen mal etwas mit den kleinen Geschwistern auf Zeit. So schaffen sich Marina und Teo im Pflegeelternalltag Raum für kleine Auszeiten, zum Beispiel um sich mit Freunden zu treffen.
Enge Begleitung von der Diakonie
Teo ist überzeugt, dass die eigenen Kinder sehr von ihren wechselnden Geschwistern profitiert haben: „Sie kennen keine Berührungsängste mit kleinen Kindern und spannen zum Wickeln und Füttern bei Bedarf auch ihre Partner*innen mit ein. Ganz selbstverständlich.“ Darüber hinaus gibt eine Reihe von Hilfen und eine enge Begleitung seitens der Diakonie. Gerade auch wenn es mal besonders kritisch wird. Trotzdem gibt es Momente, in denen auch Marina mal alles zu viel wird. „Dann bekamen Teo und die Kinder ihre Aufgaben, ich habe mir den Hund genommen und bin in den Wald gegangen, um durchzuatmen“, sagt Marina.
Rituale und Erinnerungen
Jedes Mal, wenn ein Kind die Familie verlässt, hinterlässt es eine Lücke in der Familie. „Jedes Kind war nach drei Tagen wie ein eigenes“, berichtet Marina. Zu manchen Kindern haben sie noch heute Kontakt. Ein Mädchen, inzwischen 13 Jahre alt, besucht die Beiden mit ihrer neuen Pflegefamilie einmal im Jahr. Der Abschied von den Kindern geschieht fast nie plötzlich, sondern zieht sich aufgrund der Gewöhnung zum Beispiel an Dauerpflegeeltern oft über Wochen. Ist das Kind dann ausgezogen, braucht insbesondere Marina Rituale, um abschließen zu können. „Zuerst räume ich die Spielsachen und Kleidung weg“, erzählt sie. „An dem Tag machen wir dann noch meistens irgendwas Tolles mit unseren Kindern, oft gehen wir zusammen essen.“ Und Marina sucht sich für die folgenden Tage bewusst immer eine Unternehmung aus, worauf sie in der Zeit mit Kind verzichten musste.
Die beiden dokumentieren die gemeinsame Zeit mit jedem Kind vom ersten bis zum letzten Tag in Fotobüchern. Teo zieht eins aus dem Bücherregal im Wohnzimmer und schlägt es auf. Auf der ersten Seite ein Bild vom strahlenden Lächeln eines kleinen Mädchens. Auf den Folgeseiten auch Bilder von gemeinsamen Urlauben: Das Mädchen treibt bei Sonnenschein in einem riesigen quietschgelben Schwimmreifen im blauen Wasser. „Wenn die Eltern zustimmen und für die Zeit auf ihr Besuchsrecht verzichten, dann nehmen wir die Kleinen gerne mit“, erklärt Teo. Ansonsten haben die leiblichen Eltern nämlich in der Regel ein wöchentliches Besuchsrecht. Die Treffen finden in den Räumen der Diakonie in Düsseldorf unter Begleitung eine*r Fachberater*in statt.
Nach dem Auszug von Mats nehmen Marina und Teo jetzt eine Auszeit. Es geht mit dem Wohnwagen nach Kroatien. Alleine. „Wir haben uns für drei Monate abgemeldet, um mal richtig ausspannen zu können“, sagt Marina. Aber dann schaltet Marina das Smartphone wieder an und sie und Teo stehen wieder auf Anruf als Eltern auf Zeit zur Verfügung.
Familiäre Bereitschaftspflege
Manchmal muss es schnell gehen. Wenn ein Kind in Gefahr ist, wird es eventuell sofort von seinen Eltern getrennt – manchmal auch nur vorübergehend. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Möglichkeit ist die vorübergehende Unterbringung in einer Familie, die sich für solche Fälle bereithält und umfassend für diese Aufgabe vorbereitet wurde. Gerade einem Kleinkind hilft die Sicherheit, Wärme und Geborgenheit in einem familiären Umfeld, um so weit wie möglich zur Ruhe zu kommen.
Wenn Sie sich in der Bereitschaftspflege engagieren wollen, werden Sie darauf von der Diakonie Düsseldorf vorbereitet und dabei begleitet. Dazu gehört auch ein Netzwerk zum Austausch mit anderen Familien. Weitere Informationen zum Thema Familiäre Bereitschaftspflege
(*: Zum Schutz von Familie und Kind, sind nur Vornamen genannt und der Name des Kindes geändert.)