Heilpädagogische Förderung

Wenn Kinder in der Schule gemobbt werden

Ein Turnbeutel liegt auf nasser Straße

Tom* ist ein bisschen anders. Er hat ADHS. In der fünften Klasse machte ihn das zur Zielscheibe für die Attacken seiner Mitschüler. Während sich in den ersten beiden Wochen des neuen Schuljahrs Allianzen bildeten, stand Tom allein da. Die Schule war machtlos. Tom litt und die Eltern litten mit – bis sie die Reißleine zogen.

Die Namen der Kinder aus seiner alten Klasse kennt Tom bis heute nicht. Seine Mutter vermutet, dass sie ihm das einfach nicht wert sind. Toms Leidensweg begann in der 5. Klasse. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als eine Gruppe von sechs Jungen seinen Turnbeutel in die Dusche warf. Seine Hose, sein T-Shirt und seine Schuhe waren klitschnass.

Einige Zeit später sperrten die Mitschüler Tom in der Toilette ein, indem sie die Tür von außen zuhielten. Die Pause verbrachte Tom auf der anderen Seite der Tür, an der Klinke rüttelnd in der Dunkelheit. Ein Kind wollte ihm helfen. Die anderen schubsten es weg.

Das erzählt Tom, während er auf dem Sofa der Heilpädagogischen Tagesgruppe sitzt, die er nach der Schule besucht. Dabei zippelt er nach und nach die Fädchen aus dem modischen Loch in seiner Jeans. Er wirkt nicht unsicher dabei, eher ein bisschen zu reflektiert für einen Zwölfjährigen. Es sei damals leicht gewesen, ihn zum Weinen zu bringen, berichtet Tom. Darauf hätten es die anderen Kinder wahrscheinlich angelegt, als sie ihn ärgerten. „Die wollten mich weinen sehen.“

„Mobbing greift an zwei neuralgischen Punkten an:
der Teilhabe und der Selbstwirksamkeit. Diese zwei Aspekte sind aber die Schlüsselfaktoren für eine gelingende Entwicklung. Selbst wenn die Mobbing-Situation überwunden wurde, kann die Schädigung daher noch lange nachwirken. Das Kind ist verunsichert, das Gefühl der Zugehörigkeit und der Handlungsfähigkeit ist erschüttert.“

Torben Bruhn, Leiter der Heilpädagogischen Hilfen der Diakonie 

Tom reagierte auf die Schikanen, wie es die Erwachsenen ihm geraten hatten. Er machte das Mobbing öffentlich. Und doch zeigen die Worte, die er wählt, wie schwierig es für Kinder in einer solchen Situation ist, alles richtig zu machen. „Ich habe gepetzt.“ Nicht: „Ich habe um Hilfe gebeten.“ Manche Lehrerinnen und Lehrer nahmen ihn ernst, manche nicht, sagt Tom. Auch Toms Eltern schalteten sich ein, drängten die Schule immer wieder, stärker einzugreifen. Die Schule versuchte gegenzusteuern. Es gelang ihr nicht. Die Schikanen gingen weiter. Das Selbstbewusstsein war im Keller.

Das Selbstbewusstsein war im Keller

Tom sucht die Ursache dafür immer noch vor allem bei sich selbst. „Ich bin halt manchmal komisch.“ Tom hat ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom), das meint er mit „manchmal komisch“. „In der Grundschule hat Tom oft herumgealbert, wenn er unsicher war“, sagt Toms Mutter Nicole. Damit sei er schon in der Grundschule manchmal angeeckt. Daraufhin entwickelten die Eltern mit Tom Strategien, um mit Stress besser umzugehen. „Zum Beispiel gute Miene zum bösen Spiel zu machen“, sagt sie. In der Grundschule funktionierte das gut. „Aber in der Realschule hat genau dieses Verhalten ihn angreifbar gemacht.“ Während die anderen Kinder in der 5. Klasse neue Allianzen schlossen, war Tom meist auf sich allein gestellt. Manchmal halfen die Worte des Vaters, auch er habe erst spät einen richtigen Freund gefunden, aber oft halfen sie eben
auch nicht.

Auch Freundschaften der Eltern zerbrachen

Tom litt unter dem fehlenden Kontakt zu Gleichaltrigen, und seine Eltern und seine Schwester litten mit ihm. Irgendwann war auch Toms Selbstbewusstsein im Keller. „Die sagen doch eh alle, dass ich behindert bin“, bekamen seine Eltern in dieser Zeit immer öfter zu hören. „Wir hatten einfach alles versucht. Wir waren hilflos“, erinnert sich Nicole. Es sei furchtbar mitanzusehen, wie das eigene Kind vergeblich an allen Haustüren in der Nachbarschaft klingelt, um zumindest ein Kind zu finden, das mit ihm spielt. Auch Freundschaften der Eltern zerbrachen daran. „Für Außenstehende war es schwer zu verstehen, warum uns das so beschäftigte. Wir fühlten uns manchmal sehr allein.“ 

Zwei Jungs suchen sich nach der Schule eine süße Tüte aus

Heute klingeln die Kinder an Toms Tür. Weil Toms Eltern irgendwann die Reißleine zogen. Sie nahmen ihren Sohn von der Schule. Acht Monate verbrachte Tom in der Kindertagesklinik für Psychosomatik am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf, dann kehrte er an eine neue Schule zurück. „Tom hat in der Tagesklinik riesige Fortschritte gemacht. Er ist jetzt richtig selbstbewusst. Das wollten wir es ihm nicht zumuten, wieder in die alte Klasse zu gehen“, sagt Toms
Mutter.

In der neuen Schule hat Tom einen Integrationshelfer zur Seite gestellt bekommen. Nachmittags besucht er eine Heilpädagogische Tagesgruppe der Diakonie für Kinder, die unter Ausgrenzung leiden oder Schwierigkeiten haben, sich in Gruppen zurechtzufinden. Tom gefällt es in der Tagesgruppe, er hat dort Freunde gefunden, die auch ein bisschen anders sind. So wie er selbst. Die Namen der Kinder in der Tagesgruppe kennt Tom alle – und auch die Namen von mehr als der Hälfte der Kinder in seiner neuen Klasse. Aus dem Stand kann er fünf aufzählen. Fünf mehr als früher.


*Der Name wurde zum Schutz der Person von der Redaktion geändert.