Das inklusive Netzwerk "Wir machen mit"

Ein Projekt, das Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringt

Die Rad-Rikscha "Flotte Lotte" mit zwei Mitfahrerinnen

Text: Carolin Scholz, Foto: Bernd Schaller

Wen sollte man fragen, wenn es um Ideen geht, die das Leben von Menschen mit Behinderung verbessern sollen? Einfache Frage, oder? Und trotzdem sind es nicht immer die betroffenen Menschen selbst, die zu Wort kommen. Das inklusive Netzwerk „Wir machen mit!“ von „In der Gemeinde leben“ (IGL) in Wersten will das anders machen. Seit Herbst 2017 werden dort Möglichkeiten der Teilhabe geschaffen. Für Menschen mit Behinderung, Ältere, Menschen mit Migrationshintergrund - und auch für alle anderen im Stadtteil. Daraus sind in den vergangenen Jahren verschiedene Projekte entstanden. Kleinere und größere.

Eines der größeren steht an einem verregneten Vormittag Ende September unter einem Sonnenschirm vor dem "Haus Am Falder", einer gemeinschaftlichen Wohnform der IGL in Holthausen. Dort leben Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung - etwa durch einen Unfall oder Schlaganfall verursacht -, die viel Unterstützung im Alltag brauchen. Als Sabine mit ihrem Rollstuhl aus der Tür kommt und die „Flotte Lotte“ sieht, strahlt sie schon. Mit ihrer Mitbewohnerin Semra wird sie heute eine Runde auf der Rikscha drehen. Betreuerin Ulrike Wolff nimmt hinten Platz und sorgt für die nötige Stabilität. Ein Mitarbeiter des Hauses hilft den beiden Frauen in den Sitz. Eine warme Decke kann über die Beine gespannt werden, eine kleine Überdachung über die Köpfe. „Richtig gemütlich“, ist Sabines Urteil, bevor Ulrike Wolff in die Pedale tritt und die „Flotte Lotte“ langsam aus dem Hof hinaus lenkt.

Mit der Rikscha zum Rhein oder zum Kaffeetrinken

Die Rikscha anzuschaffen war der Wunsch von ein paar Bewohnerinnen und Bewohnern, die im Matthias-Claudius-Haus in Wersten leben. „Die haben geäußert, dass sie noch häufiger im Stadtteil unterwegs sein wollen“, sagt Benjamin Freese, der für „Wir machen mit!“ verantwortlich ist. Viele, die dort wohnen, sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, wünschten sich aber trotzdem, beim Karnevals- oder Schützenumzug zusehen oder einfach mal eine Runde an den Rhein fahren zu können. In Bonn habe es bereits ein ähnliches Projekt für ältere Menschen gegeben. Das habe man sich angesehen, die Rikscha auch ausgeliehen und selbst ausprobiert. „Wir fanden, das brauchen wir auch in Wersten“, sagt Benjamin Freese. Mit Spenden und Fördergeldern wurde dann die „Flotte Lotte“ angeschafft und im August vor einem Jahr in Betrieb genommen. Seitdem sichert sie den in den Einrichtungen Wohnenden, aber auch den Menschen in Wersten insgesamt ihr „Recht auf Wind in den Haaren“ - bei Vergnügungsfahrten zum Rhein, zum Kaffeetrinken oder eine Runde durch den Park erweitert sie deren Bewegungsradius. So wie für Sabine und Semra.

Menschen zu befähigen, ihre Meinung oder Wünsche mitzuteilen, ist das Ziel von „Wir machen mit!“. Dafür wollen Benjamin Freese und seine Kollegin Yvonne Heiter Möglichkeiten schaffen. Mit Infoständen oder mobilem Café bei Stadtteilfesten und anderen Veranstaltungen, bei denen die Menschen aus dem Stadtteil zusammenkommen und auf dem kurzen Weg sagen können, was gut läuft und wo es hakt. Oder auch mit der wöchentlichen Begehungsgruppe.

Die Wheelapp prüft Barrierefreiheit

Daran nehmen zum Großteil Menschen aus dem gemeinschaftlichen Wohnen der IGL, aber immer wieder auch Werstener Bürgerinnen und Bürger teil. Jeden Mittwoch machen sie sich auf den Weg durch den Stadtteil, immer mit einer Aufgabe auf dem Zettel. „Wir machen mit!“ ist etwa Botschafter für das Projekt Wheelmap. Die Wheelmap ist eine interaktive Karte, auf der Geschäfte, Restaurants, Toiletten und andere öffentliche Gebäude verzeichnet sind und vermerkt wird, ob und wie diese barrierefrei zugänglich sind. Diese Daten können alle eintragen, die möchten. Wie das geht, zeigt das Werstener Netzwerk bei Schulungen auch anderen Interessierten. Außerdem wurde in dem Zusammenhang eine Rollstuhlrampe organisiert, die seit kurzem in einem der Geschäfte bereitsteht und kostenlos ausgeliehen werden kann, wo mal zwei oder drei Stufen überwunden werden müssen.

Rollstuhlgerechte Einkaufswagen in Wersten

Auch ein Problem beim Einkauf im Drogeriemarkt hat die Gruppe identifiziert. Wer im Rollstuhl unterwegs ist, hatte es bislang schwer, einen Einkaufswagen zu benutzen. Wenn man beide Hände zum Vorwärtskommen braucht, bleibt keine zum Schieben des Wagens übrig. Dafür gibt es allerdings Alternativen, die sich im Rollstuhl einhängen lassen, sodass die Hände frei bleiben. „Wir machen mit!“ hat dafür gesorgt, dass zumindest in einem der Werstener Geschäfte so ein rollstuhlgerechter Einkaufswagen angeschafft wurde. Ein toller Erfolg, findet Benjamin Freese. Immer wieder gehe es darum, dem Einzelhandel Probleme zu schildern und nach Lösungen zu suchen. „Wir machen mit!“ arbeitet deshalb auch eng mit der Werbegemeinschaft „Wir in Wersten!“ zusammen.

Wichtig bei diesen vielen Projekten ist immer: Es wird hier nicht nur etwas für die Betroffenen getan, die Expertinnen und Experten in eigener Sache, wie Benjamin Freese sagt, sondern vor allem mit ihnen. Als über die Anschaffung der Rikscha nachgedacht wurde, waren es eine Seniorin und eine Rollstuhlfahrerin, die mit nach Bonn gefahren sind, um die dortige Rikscha auszuprobieren. Als der rollstuhlgerechte Einkaufswagen im Drogeriemarkt ankam, hat eine Bewohnerin im Rollstuhl diesen getestet und in Betrieb genommen. Und auch beim Abbau von Barrieren im Digitalen konnten die Werstener schon helfen. Bei einem Hackathon, einer Veranstaltung, bei der Computerfachleute sich Alltagsproblemen annehmen und versuchen, diese technisch zu lösen. Einer hatte etwa Probleme, den Kalender seines Smartphones richtig zu lesen und hat sich Piktogramme für die verschiedenen Termine gewünscht. Eine andere hatte durch ihre Behinderung Probleme, mit den Händen Telefongespräche auf dem Handy anzunehmen und war auf der Suche nach einer sprachgesteuerten Lösung. Da sie beim Hackathon vor Ort dabei waren, konnten sie auch zwischendurch immer wieder befragt werden und schon bei Zwischenschritten die Arbeit der Programmierenden ausprobieren.

Weg mit den Barrieren im Kopf

Die greifbaren Barrieren, ein paar Stufen vor einem Geschäft oder ein schwierig zu bedienendes Smartphone, sind aber nicht die einzigen, die es zu bewältigen gilt. „Damit wäre es nicht getan“, sagt Benjamin Freese. Wichtig für das Inklusive Netzwerk „Wir machen mit!“ ist es auch, die Barrieren im Kopf zu beseitigen. Menschen, die die unterschiedlichen Unterstützungsangebote der IGL nutzen, mit ihrer Nachbarschaft zusammen zu bringen. „Bisher ist es noch immer oft so, dass Menschen mit Behinderung in den dafür vorgesehenen Kindergarten, die Schule und später die Werkstatt gehen. Da gibt es wenig Begegnung“, sagt Freese. Das zu durchbrechen sei ein wichtiges Ziel des Projekts. „Dass die Menschen sich vertrauter und zu einem selbstverständlichen Teil der Nachbarschaft werden.“ Etwa dadurch, dass sich die Einrichtungen bei Festen präsentieren, durch Dinge wie Handicap-Parcours näher an die Schwierigkeiten von behinderten Menschen heranführen oder auch ganz einfach vor dem Matthias-Claudius-Haus, wo durch eine Sitzgelegenheit mit kostenlosem Internet via Freifunk oder dem Food-Fahrrad mit geretteten Lebensmitteln aus Supermärkten ein Ort für zufällige Begegnung geschaffen wurde.

Auch die Rikscha „Flotte Lotte“ ist dafür ein gutes Mittel. Denn die sorgt für Aufmerksamkeit. Sabine und Semras Runde führt einmal durch den benachbarten Park, später noch auf einen Mittagsimbiss ins Zentrum von Holthausen. Immer wieder werden sie von Vorbeigehenden gefragt, was das denn für ein Gefährt sei. „Ich nehme mir da auch immer gerne die Zeit, das Projekt zu erklären“, sagt Ulrike Wolff, die schon viele Fahrten gemacht hat. Sabine und Semra haben ihre Fahrt genossen - auch wenn es am Ende doch ein bisschen nasskalt geworden ist. Sabine sagt, sie komme sonst wenig raus, wolle auch nicht immer. „Die Fahrt war aber eine schöne Abwechslung.“

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