Gemeinsam ist man weniger allein

Hausgemeinschaften für Senior*innen sind in Dänemark äußerst beliebt – Tendenz steigend

Text und Fotos: Miriam Arndts

Das nachbarschaftliche Miteinander steht bei diesen Hausgemeinschaften im Mittelpunkt. Ein Besuch im Kamelia Hus in Kopenhagen.

Sie sind nicht zu übersehen an diesem grauen Februarmorgen. Und auch nicht zu überhören. Rund ein Dutzend Senior*innen in gelben Warnwesten haben sich mit ihren Fahrrädern in einer Wohnsiedlung in Kopenhagen versammelt. Sie besprechen, welche Route sie heute fahren wollen. „Ein wichtiges Kriterium ist, dass wir auf der Strecke irgendwo zum Kaffeetrinken einkehren können“, sagt Helene Nielsen und lacht. Die 73-Jährige leitet zusammen mit einer Nachbarin aus dem Kamelia Hus die Fahrradgruppe für Senior*innen.

Das Kamelia Hus, der vierstöckige Neubau, hinter dem sich die Radfahrer treffen, ist eine Seniorenhausgemeinschaft. Das Konzept ist in Dänemark in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden: Jede*r hat eine eigene Wohnung, aber es wird viel gemeinsam unternommen und entschieden. Im Kamelia Hus muss man mindestens 60 Jahre alt sein, um einziehen zu dürfen.

In den vergangenen drei Jahren wurden in Dänemark so viele neue Seniorenhausgemeinschaften gegründet wie nie zuvor. Helene bindet sich einen Schal um den Kopf und setzt ihren Fahrradhelm darauf. „Es ist für mich wichtig, körperlich aktiv zu sein“, sagt die ausgebildete Physiotherapeutin. Jede Woche fährt sie mit ihren Mitradler*innen eine rund zweistündige Tour, bei Wind und Wetter. Vor Kurzem hat sie noch dazu eine Tischtennisgruppe ins Leben gerufen.

Eine Bewohnerin in der Gemeinschaftsküche

Als junge Frau habe ich in einer WG gelebt, dann kann ich das als alte Frau doch auch!

„Als ich in Rente gegangen bin, habe ich mich gefragt, was ich mit meiner Zeit anfangen soll, wenn ich nicht mehr arbeite“, erzählt Helene. „Dann habe ich gedacht: Als junge Frau habe ich in einer WG gelebt, dann kann ich das als alte Frau doch auch!“ Ursprünglich wollte Helene, deren Mann vor 15 Jahren gestorben ist, in ein Mehrgenerationenhaus einziehen. Dessen Bau hat sich aber verzögert. Sie war sich nicht sicher, ob sie Lust hatte „nur mit Alten“ zusammenzuwohnen, sagt sie mit einem Augenzwinkern. „Aber es ist wirklich ganz nett hier. Man muss sich nicht verabreden, man kann einfach vor die Wohnungstür treten und trifft da bestimmt jemanden.“

Im Kamelia Hus gibt es 49 Wohnungen. Der Großteil der Bewohner*innen sind Alleinstehende, aber auch ein paar Paare wohnen hier. Die älteste Bewohnerin ist derzeit 86 Jahre alt. In jedem Stockwerk gibt es mindestens einen Gemeinschaftsraum: Werkstatt, Fitnessraum, Gemeinschaftsküche und Speisesaal, Bibliothek, Multimediaraum mit Computern und Drucker, Kreativraum. Und ganz oben eine Dachterrasse mit Treibhaus, in dem die Gartengruppe Gemüse für alle Bewohner*innen anbaut. Henrik Herskind wohnt im vierten Stock. Seine Wohnung ist überschaubar: offene Essküche, die direkt ins Wohnzimmer übergeht, kleines Bad, kleines Schlafzimmer, verteilt auf 54 Quadratmeter. In Henriks Mietvertrag stehen aber 74 Quadratmeter.

„Jede*r zahlt für 20 Quadratmeter, die auf die Gemeinschaftsflächen verteilt sind“, erklärt der pensionierte Arbeitsvermittler. „Ohne Wohngeld könnte ich mir die Miete nicht leisten.“ Die höheren Ausgaben für die relativ kleine Wohnung lohnen sich aber, findet Henrik. Er nutzt die Gemeinschaftsräume intensiv. Er ist in der Lesegruppe, im Filmklub, nimmt regelmäßig am Gemeinschaftsessen teil und seit Neuestem spielt er mit seiner Nachbarin Tischtennis im Fitnessraum. „Ich würde sagen, 25 bis 30 Prozent meiner Zeit verbringe ich mit Mitbewohnern hier im Haus“, sagt der 71-Jährige. Das war auch der Hauptgrund, warum er 2019 in die neu gegründete Seniorenhausgemeinschaft eingezogen ist: „Ich wollte nicht alleine sein im Alter. Ich habe jetzt ein viel sozialeres Leben, als ich es sonst hätte.“

Ein Bewohner in der Gemeinschaftsküche

Ich habe auf meine alten Tage festgestellt, dass ich doch sozialer bin, als ich dachte

Was Henrik besonders am Kamelia Hus mag ist, dass hier alles auf Freiwilligkeit basiert. Jeder kann Aktivitäten vorschlagen und daran teilnehmen, aber niemand muss. Wie viel jede*r zur Gemeinschaft beitragen sollte, war am Anfang einer der Konfliktpunkte unter den Bewohner*innen. Mittlerweile habe sich das geklärt. „Konflikte gibt es in allen Wohngemeinschaften“, sagt Henrik. „Nur ist der Unterschied, dass ältere Menschen oft verstockter sind als jüngere.“

In der großen Küche im Erdgeschoss ist eine Gruppe Bewohner*innen zusammengekommen, um das gemeinschaftliche Abendessen vorzubereiten. Es findet etwa einmal pro Woche statt und ist im Haus sehr beliebt. Für heute haben sich knapp 30 Bewohner*innen angemeldet. Es soll gefüllte Pfannkuchen geben. Lise Mackenhauer erzählt, dass ihr in der Nacht mit Schrecken eingefallen sei, dass sie und Aksel Weizentortillas gekauft haben, den Bewohner*innen aber „richtige“ Pfannkuchen versprochen wurden. Alle lachen und entscheiden, dass das kein Problem sein wird. Ruth Goth hat Rezepte ausgedruckt und verteilt die Aufgaben. Lise macht die Hackfleischfüllung, Jytte deckt die Tische, die Männer werden zum Gemüseschnippeln in den Nebenraum geschickt.

Aage Rübner Jørgensen, 79 Jahre alt, entkernt die Äpfel für den Spitzkohlsalat. „Ich habe auf meine alten Tage festgestellt, dass ich doch sozialer bin, als ich dachte“, sagt er und lächelt verschmitzt. Deshalb sei er hier eingezogen und glücklich mit seiner Entscheidung. Aksel Goth säubert die Küchenmaschine, mit der er Möhren geraspelt hat. Ins Kamelia Hus einzuziehen war die Idee seiner Frau Ruth, erzählt der pensionierte Gymnasialdirektor. „Ich habe mir ein enges nachbarschaftliches Verhältnis gewünscht“, sagt Ruth. „In unserem alten Wohnhaus hat man sich im Treppenhaus gegrüßt, aber sonst hatte man nichts mit seinen Nachbarn zu tun.“

Mittlerweile ist alles vorbereitet und es bleibt noch etwas Zeit, bis die Tortillas in den Ofen müssen. Aage verschwindet kurz und kommt mit einer Flasche Weißwein zurück. Die Kochgruppe versammelt sich um den kleinen runden Tisch in der Küche. „Wir sagen einander Bescheid, wenn wir mal ein paar Tage weg sind“, erzählt Aksel. „Als unsere Nachbarin krank wurde, habe ich sie manchmal ins Krankenhaus gefahren, wenn ich gerade zu Hause war. Aber es ist für mich wichtig zu sagen: Wir helfen einander als gute Nachbarn. Aber wir pflegen einander nicht.“ Nein, dafür gebe es den kommunalen Pflegedienst, der zu den Bürger*innen nach Hause kommt.

Die ambulante Altenpflege ist in Dänemark steuerfinanziert und genau wie die Pflege im Heim für alle gratis. Bislang benötigen nur wenige Bewohner*innen hier im Haus den Dienst. „Die Kommune spart ja auch Geld dadurch, dass die Pflegekräfte gleich mehrere Ältere in einem Haus besuchen können“, sagt Lise. Eine Stunde später breitet sich der Duft der mit Käse überbackenen Tortillas im Speisesaal aus. Henrik verteilt Gesangsbücher auf den Tischen. Er hat ein Lied ausgesucht, das die Bewohner*innen vor dem Essen gemeinsam singen werden – eine dänische Tradition bei Feierlichkeiten und größeren Versammlungen.

Eine Bewohnerin kommt kurz vor Essensbeginn in die Küche. Sie möchte ihrer Nachbarin, die krank geworden ist, das Abendessen in die Wohnung bringen. „Es ist ja auch für unsere erwachsenen Kinder gut, zu wissen, dass wir als Nachbarn immer ein wachsames Auge aufeinander haben“, sagt Aksel. „Als meine Schwiegermutter älter wurde, hat Ruth sie jeden Tag angerufen, um zu hören, wie es ihr geht. Ich glaube, es wird noch sehr lange dauern, bis unsere Kinder das für nötig halten.“

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  • Seniorenhausgemeinschaften liegen in Dänemark im Trend: Laut Umfragen wünschen sich rund 80.000 ältere Dänen, in eine solche einzuziehen.
  • Die Gemeinschaften kommen in verschiedenen Wohnformen daher, zum Beispiel als Miets-, Genossenschafts-, Sozial- und Eigentumswohnungen.
  • Manche haben einen speziellen Fokus, wie etwa Nachhaltigkeit oder aktives Altern.
  • Studien zeigen, dass sich das Leben in einer Seniorenhausgemeinschaft positiv auf die Gesundheit und die Lebensqualität älterer Menschen auswirkt. Das wiederum könnte die öffentlichen Ausgaben für die Pflege Älterer senken. Daher fördert der dänische Staat den Bau neuer Seniorenhausgemeinschaften.
  • In Dänemark ist es seit Jahrzehnten das Ziel der Politik, Alten so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Heim zu ermöglichen. Die Altenpflege ist steuerfinanziert und Aufgabe der Gemeinden. Alle Bedürftigen bekommen gratis Hilfe im Haushalt und ambulante Pflege.