Scheitern ist in Ordnung

Diese Schule will aufs Leben vorbereiten, aber nicht ausschließlich mit Mathe und Deutsch, sondern mit Herausforderungen, die die Schüler*innen meistern sollen

Auf dieser Schule meistern die Schüler*innen nicht nur "normale" Schulfächer, sondern auch Herausforderungen, die sie mal alleine, mal im Team, mal im Ausland, mal drei Wochen auf Reisen – ohne Hilfe von Erwachsenen bewältigen müssen.

 

Text und Fotos: Karl Grünberg

 

Je mehr man über diese Schule erfährt, umso mehr muss man den Kopf schütteln. Nicht, weil sie besonders schlecht, die Schüler*innen besonders ruppig wären. Nein, man muss den Kopf schütteln, weil an dieser Schule so vieles anders ist als an den allermeisten Schulen in Deutschland. In dieser Woche zum Beispiel, Mitte Februar, sind die Klassen 7 bis 9 gar nicht da, weil sie sich von Montag bis Freitag zwei, drei, vier Filme im Kino anschauen. Je nachdem, wie viel das Programm des Filmfestivals „Berlinale“ hergibt. „Die freuen sich auf Kino und merken gar nicht, wie viel sie dabei lernen“, sagt Uli Marienfeld und lacht schelmisch. Und das sei noch das Normale. Richtig aufregend werde es, wenn die Schüler*innen sich jedes Jahr für drei Wochen aufmachen, ohne Handy, mit jeweils 150 Euro ausgestattet, um eine Herausforderung zu meistern.

Über 35 Jahre ist Marienfeld schon Schulleiter, unterrichtet selbst noch Mathematik und Sport, seit ein paar Jahren nun hier an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum in Berlin, einer freien und privaten Gemeinschaftsschule mit 500 Schüler*innen von der 7. bis 13. Klasse. Nach Elite sieht es hier aber nicht aus, die zwei Schulgebäude wirken unscheinbar bis heruntergekommen. Auch die Schüler*innen kommen nicht in Anzug oder Uniform, sondern mit Kapuzenpulli und Baggy Pants. Zigaretten werden noch hastig vor dem Schultor ausgedrückt, es wird „hey Digger“ und „Bruder“ gesagt und herumgealbert, so wie auf den allermeisten Schulhöfen.

Marienfelds Büro ist im Erdgeschoss, man erkennt es an der offenen Tür. „Die steht immer auf, nicht nur sinnbildlich, sondern tatsächlich“, sagt er und lacht wieder. Draußen hört man Lehrer und Schüler reden, das Telefon der Sekretärin klingelt, eine Lehrerin steckt ihren Kopf herein, hat eine kurze Frage, die er beantwortet. Mit am Tisch sitzt eine angehende Schulleiterin aus einem anderen Stadtbezirk, sie will herausfinden, was diese Schule anders macht. Überhaupt hätten sie ständig Besuch aus ganz Deutschland, Lehrer*innen, Studierende, Journalist* innen, alle schauen ihnen an die Tafel.

Ich will meine Schüler*innen herausfordern. Aber nicht darin, die besten Noten zu schreiben, sondern darin, sich dem Leben zu stellen und gerne auch mal zu scheitern. Wofür sonst ist denn Schule da? Das Abitur machen sie hier natürlich auch noch. Aber eher nebenbei.

Los geht es um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde später als an den staatlichen Schulen. Der Unterricht heißt nicht Unterricht, sondern ist in verschiedene Lernformate unterteilt. Eines davon sind die Lernbüros, also Mathe, Deutsch und Fremdsprachen. Dabei lernen die Schüler*innen jahrgangsübergreifend, 7. bis 9., 10. bis 11. Klasse und die Oberstufe – aber im jeweils individuellen Tempo. Jede*r Schüler*in sucht sich einen sogenannten Lernbaustein aus, bearbeitet diesen selbstständig. Frontalunterricht gibt es nur selten, stattdessen gehen die Lehrer*innen herum, helfen und erklären. Tests werden geschrieben, wann, entscheiden die Schüler*innen. Wichtig ist nur, dass alle Bausteine und alle Tests am Ende des Jahres geschafft sind. „Damit fördern wir das selbstständige Lernen und schauen gleichzeitig auf jeden einzelnen Schüler, jede einzelne Schülerin“, sagt Marienfeld. Bis Klasse 9 gibt es auch keine Noten.

Noch wichtiger als Mathe und Deutsch, so scheint es, ist das, was sonst noch passiert. Jeden Mittwochmorgen helfen die Schüler*innen für zwei Stunden in einer Kita aus, in Alten- und Pflegeheimen, in Suppenküchen oder im Tierheim. „Projekt Verantwortung“, sagt Marienfeld. Wer möchte, kann auch in der Schule den Garten pflegen, Hochbeete bauen, die Unterrichtsräume gestalten. Danach gibt es Projektstunden, in denen sich die Schüler*innen mit dem Klimawandel beschäftigen, mit Identität und Gemeinschaft, aber auch mit Naturwissenschaften oder Musik. Sie planen eine Ausstellung, organisieren eine Podiumsdiskussion, drehen einen Film. Expert*innen kommen von außerhalb und berichten aus ihren Berufen. Dazu gibt es wöchentliche Schulversammlungen, in denen Demokratie geübt wird. Das ist der Alltag in der Schule.

Dann, im Frühsommer, wird es auf einmal leer in der Schule. Die Schüler*innen der 7. bis 10. Klasse sind ausgeflogen. „Sich für die Zukunft wappnen, mutig sein, etwas völlig anderes erleben, über sich hinauswachsen“, so Marienfeld, genau darum gehe es in dem Lernformat „Herausforderung“. Drei Wochen sollen sich die Schüler* innen einer Aufgabe widmen, etwas schaffen und sich durchbeißen. Dazu teilen sie sich in Gruppen auf, dann überlegen sie sich, was sie machen wollen, sprechen das mit den Tutor*innen ab. Schließlich geht es an die Planung: Wer kümmert sich um die Route, den Zug, die Übernachtungen. Es geht aber auch darum, welche Regeln und Werte sie sich als Gruppe geben wollen. Wer soll welche Rolle übernehmen? Alles wird in einem Heftchen festgehalten.

Das ist echt hart, da die Klappe zu halten

Die einen fahren zu fünft mit dem Fahrrad an die Ostsee, die anderen überqueren die Alpen oder umrunden den Bodensee. Wichtig dabei ist, dass sie pro Person nur 150 Euro zur Verfügung haben, außerdem ein altes Handy für den Notfall. Die erwachsene Begleitperson darf sich nicht einmischen. Alle Entscheidungen treffen die Jugendlichen selbst, es sei denn, sie sind lebensgefährlich. „Das ist echt hart, da die Klappe zu halten“, sagt Maria Jacobi, die im Lehrerzimmer einen Kaffee trinkt, nebenbei kleine Hefte nach Farbe sortiert, kurz noch mit einer Schülerin spricht, dann noch einmal losmuss. Jacobi wirkt energisch, seit drei Jahren ist sie an der Schule und freut sich über jeden neuen Tag. „Wenn die Kinder sich zum Beispiel nur mit Fanta und Chips eindecken, obwohl die Geschäfte in den nächsten Tagen zu haben, dann muss man sich echt auf die Lippen beißen“, sagt sie. Oder wenn sie der Meinung sind, dass dieser Weg der richtige ist. Oder wenn sie sich entscheiden, lieber eine lange Pause zu machen und nicht auf das Wetter zu achten. „Diese Touren können auch scheitern und gegen die Wand fahren, aber das ist in Ordnung“, sagt sie. Es muss aber nicht immer eine Reise sein, manche planen und üben ein Musical ein, andere bauen einen Abenteuerspielplatz auf, wieder andere helfen auf einem Bauernhof.

„Am besten ist es, wenn sie gemeinsam eine schwierige Erfahrung durchstehen müssen“, sagt Maria Jacobi. Wenn bei der Wanderung durch die Alpen das Wetter so schlecht ist, dass sie sich an den Händen halten und sich gegenseitig motivieren. Wenn sie in ein Dorf kommen und bei den Bauern um Wasser oder einen Schlafplatz bitten. „Und sie lernen sich besser kennen“, sagt sie. Einer, der vorher erst der Außenseiter war, konnte sehr gut kochen. Die anderen haben ihn angebettelt, dass er die Kocherei übernimmt, dafür würden sie sein Zelt immer aufbauen. Oder wieder ein anderer, sonst ruhig und schüchtern, der auf einmal die anderen motivierte, der die Kühe verscheuchte, als diese in die Zelte schauen wollten.

Das war ein tolles Gefühl, es allein geschafft zu haben.

Oscar sitzt mit seinen beiden Kumpels in einem der Lernräume. Ein ruhiger, bedachter junger Mann mit kurzen, dunklen Haaren. Er ist in der 12. Klasse, sein erstes Abijahr, gerade brütet er über ein paar Aufgaben. „Mir macht es Spaß, zur Schule zu kommen, es ist ein Raum, in dem ich mich entfalten kann“, sagt er. Er erinnert sich noch gut an seine Herausforderungen. In der 8. Klasse sind sie nach Mecklenburg-Vorpommern gereist, haben auf einem Ferienhof im Wohnwagen geschlafen und geholfen, Unkraut jäten, Gelände markieren. „Das war schon ein krasses Gefühl. Das erste Mal auf sich alleine gestellt sein, alles selbst zu planen. Das prägt, macht selbstständiger“, sagt er. Ein Jahr darauf wollte ein Busfahrer sie und ihrer Räder nicht mitnehmen, also mussten sie fahren, 10, 20, 30 Kilometer. Sie hatten keine Karte, kein Smartphone, irgendwann klingelten sie an einem Haus. Der Mann hatte Mitleid und schenkte ihnen eine Fahrradkarte, irgendwann spätabends kamen sie an ihrem Ziel an. „Das war ein tolles Gefühl, es allein geschafft zu haben.“

Zettelwand

In der 11. Klasse kommt dann das große Abenteuer, drei Monate allein im Ausland, aber nicht in den Ferien, sondern in der Schulzeit, und auch nicht in einer anderen Schule, sondern wirklich arbeiten. Manche beobachten für den Naturschutzbund Vögel im Wattenmeer, andere reisen nach Schweden, um auf einem Ökobauernhof mit anzupacken. Manche nutzen die Gelegenheit und fahren in das Land ihrer Vorfahren nach Tansania, nach Kuba, um dort zu arbeiten.

Oscar war in Irland, dort hat er auf einem Bauernhof geholfen. Er hat Zäune gebaut, sich um die Tiere gekümmert, Pferdemist geschaufelt. Das Wichtigste aber: „Ich bin dort Teil der Familie geworden“, sagt er. Natürlich hatte er Heimweh, zwischendurch wäre er am liebsten auf und davon. „Aber ich habe durchgehalten“, sagt Oscar stolz. Er erinnert sich, wie er morgens aus seiner kleinen Hütte trat, auf die Hügel schaute, die Schafe und den Hund hörte und realisierte, dass er jetzt hier sei. „Sie gehen als Jugendliche und kommen als Erwachsene wieder“, sagt Marienfeld.

Die Zukunft, sagt der Direktor dieser unscheinbaren Schule in Berlin-Mitte, ist ungewiss. Aber seine Schüler*innen haben alle Werkzeuge an die Hand bekommen. Sie sind neugierig, können durchhalten und sich in neue Situationen hineindenken.

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