Soziale Arbeit mit System

Der Geschäftsbereich "Erziehung und Beratung" ist mit dem Qualitätssiegel der Systemischen Gesellschaft zertifiziert

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Vor rund 30 Jahren absolvierte Rudolf Brune, ehemaliger Vorstand der Diakonie, damals noch Sozialarbeiter in der Jugendhilfe, eine Weiterbildung in Systemischer Sozialarbeit. Er war danach so überzeugt von dem Ansatz und so überzeugend, dass auch seine Kolleg*innen sich für Systemische Arbeit begeisterten. Mit seiner Begeisterung brachte er einen Stein ins Rollen: Seit 2020 ist der Bereich „Erziehung & Beratung“ der Diakonie Düsseldorf nun auch mit dem Qualitätssiegel der Systemischen Gesellschaft e. V. zertifiziert. Dafür haben rund 400 Führungskräfte und Mitarbeitende des Bereichs eine Systemische Weiterbildung bei einem Fortbildungsinstitut der Systemischen Gesellschaft und/oder der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) durchlaufen.

Für die stellvertretende Geschäftsführerin der Systemischen Gesellschaft, Christiane Liedholz, war die Zertifizierung der Diakonie Düsseldorf ein Großprojekt: „Im Normalfall sind es kleinere Einheiten wie Praxen, Beratungsstellen oder Projekte aus der Jugendhilfe, die die Zertifizierung bei uns beantragen. Die Zertifizierung der Diakonie war daher für uns ein herausragendes Projekt.“

Die sozialen Beziehungen der Menschen stehen im Mittelpunkt

Aber was bedeutet „Systemisches Arbeiten“ eigentlich? „Systemische Arbeit ist ein Ansatz, die Welt zu betrachten – die systemische Haltung geht davon aus, dass Menschen selbst die Expert*innen für ihre jeweilige Lebenssituation sind“, erklärt Christiane Liedholz. Zentral sei, dass die sozialen Beziehungen, in denen ein Mensch steht, und deren Wechselwirkungen untereinander betrachtet würden – ob nun bei der Arbeit oder in der Familie. Der systemische Ansatz geht davon aus, dass es grundsätzlich gute Gründe gibt, warum Menschen in ihrem Umfeld so agieren, wie sie agieren; deshalb schauen die Fachkräfte auf die Vielfalt der Perspektiven – es gilt stets das „Sowohl-als-auch – und es könnte auch ganz anders sein“.

Systemische Sozialarbeiter*innen gehen unvoreingenommen vor: Im Vordergrund steht die respektvolle und gleichberechtigte Beziehung zwischen Klient*in und Sozialarbeiter* in. Die Wertschätzung der individuellen Lebensstrategien und Verhaltensweisen spielt eine große Rolle. „Sozialarbeiter*innen, die systemisch arbeiten, verzichten auf ein ‚Ich weiß es besser‘ oder ‚Das musst du alles neu lernen‘, vielmehr gehen sie ressourcenorientiert an die Arbeit: ‚Welche Fähigkeiten bringt der Mensch vor mir mit? Was hat er bisher geschafft? Und was bringt ihn jetzt weiter?‘“, führt Liedholz aus.

Arbeit mit transparenten Zielen

Die Vielfalt der Perspektiven in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen ist einer der großen Unterschiede zu anderen Beratungsformen: „Das Kind wird ein Problem in der Familie ganz anders wahrnehmen als die Mutter oder der Vater. Diese Multiperspektivität bietet einen ganz anderen Fundus, auf die Dinge zu schauen und auch Probleme zu lösen“, so Liedholz weiter. „Es geht um den Prozess und das Miteinanderaushandeln.“ Systemische Praxis kann sich daher nur in der Kooperation verwirklichen. Dabei arbeiten Systemiker*innen mit transparenten Zielen und legen Wert auf eine gemeinsame Auftragsklärung.

Zertifizierung heißt auch: Weiterbildung der Mitarbeitenden

Die in Berlin ansässige Systemische Gesellschaft zertifiziert Organisationen, Einrichtungen oder Unternehmen, die sich dem systemischen Ansatz nicht nur in der direkten Arbeit mit Klient*innen, Kund*innen verpflichtet fühlen, sondern auch die Arbeits- und Organisationsstruktur systemisch ausrichten möchten. Zu den Kriterien der Zertifizierung gehört, dass 50 Prozent der Mitarbeitenden auf Leitungsebene mindestens 500 Unterrichtseinheiten Weiterbildung absolviert haben und dass 50 Prozent der Mitarbeitenden auf der Fachebene eine systemische Weiterbildung von jeweils wenigstens 90 Unterrichtseinheiten gemacht haben. „Bei der Diakonie wurde durch die Zertifizierung eine richtige Weiterbildungswelle losgetreten“, bilanziert Liedholz.

Kernprodukt des Qualitätssiegels: das Zertifizierungsgespräch

Bei der Zertifizierung geht es aber nicht nur um die Weiterbildung der Mitarbeitenden, sondern auch um die Organisationsentwicklung: Wie wollen wir mit unseren Ressourcen umgehen? Welche Lösungen wollen wir finden? Wie leben wir unsere Kundenorientierung? Wie können wir mit all unseren Kooperationspartnern partizipativ arbeiten? Außerdem wird vorausgesetzt, dass in dem zertifizierten / zu zertifizierenden Bereich regelmäßige systemische Supervisions- oder Intervisionsgruppen installiert werden. Die Organisation soll sich selbst immer wieder hinterfragen. Dafür bietet die Systemische Gesellschaft ein Netzwerk an Informationen und Erfahrungen an. Am Ende des Zertifizierungsprozesses besucht ein Gremium der Systemischen Gesellschaft die Organisation, um vor Ort ein intensives Zertifizierungsgespräch zu führen, bei dem die einzelnen Prozesse gemeinsam betrachtet werden. „Dieses Gespräch ist das Kernprodukt des Qualitätssiegels“, erklärt Christiane Liedholz. „Die Diakonie und die Systemische Gesellschaft haben im letzten Jahr gemeinsam auch einen sehr erfolgreichen Fachtag zum Thema organisiert.“ Für dieses Jahr steht die Rezertifizierung an. Dann wird es nicht mehr nur darum gehen, einen Qualitätsstandard zu erreichen, sondern auch um die Frage, wie die Diakonie den erreichten Standard halten kann.

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Praxisbeispiel 1 - Reflexion durch Perspektivwechsel

Die Fachberatungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung umfasst zahlreiche Unterstützungsangebote für Kinder, Elternpaare und einzelne Elternteile, die Gewalt erfahren und / oder ausgeübt haben. Zum Angebot gehört auch ein „Sozialer Trainingskurs nach häuslicher Gewalt“. Dieser Kurs richtet sich an Männer, die gegen ihre (Ex-)Partnerin gewalttätig geworden sind und ihr Verhalten ändern wollen. Ziel ist ein partnerschaftliches Miteinander ohne Gewalt. Ein Teil des Trainings beinhaltet die Auseinandersetzung der Männer mit ihren Gewalttaten und deren Auswirkungen auf ihre Opfer. Im Rahmen des Sozialen Trainingskurses erhält einer der Klienten die Aufgabe, einen „Opferbrief“ zu schreiben. Das ist ein Brief an sich selbst, aber aus der Perspektive des Opfers geschrieben. Dieser Brief wird während einer Gruppensitzung von einer Therapeutin vorgelesen. Sowohl der Klient selbst als auch die anderen Teilnehmer*innen des Kurses teilen ihre Eindrücke und Emotionen mit, die anschließend in der Gruppe reflektiert werden. Im Rahmen dieser Übung ist es dem Klienten gelungen, ein Bewusstsein für sein Handeln zu entwickeln und wahrzunehmen, wie sich das Opfer, das heißt in diesem Fall seine Ehefrau, während und nach der Gewalttat gefühlt haben muss. Durch den Perspektivwechsel konnte er sich in das Erleben seines Opfers einfühlen; er hat seine Taten reflektiert

Praxisbeispiel 2 - Ressourcen stärken

Ein Klient ist mit 15 Jahren zusammen mit seinem damals 14-jährigen Bruder aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Die beiden wurden zuerst in einer Wohngruppe, anschließend im Rahmen einer Verselbstständigungsmaßnahme betreut. Nachdem der Asylantrag positiv entschieden wurde, konnte der Vater der beiden Brüder ebenfalls nach Deutschland einreisen. Mit seiner Einreise mussten beide Brüder die Jugendhilfe- Einrichtung verlassen und zum Vater in eine Geflüchtetenunterkunft ziehen. Der Klient fühlt sich in seiner Rolle als ältester Sohn überfordert, weil er viele Aufträge von der Familie übernehmen muss. Eine Mitarbeiterin der Jugendhilfe-Einrichtung arbeitet weiterhin ambulant mit dem Klienten, um ihn praktisch und emotional zu unterstützen. Als der Klient gestresst ist, weil ihn das Thema „Wohnungssuche“ belastet, nutzt die Betreuerin einen gezeichneten Skalierungsstrahl von 1 bis 10, damit der Klient sein Belastungslevel visualisieren kann. Er sieht sein Level bei einer Acht. Die Betreuerin fragt ihn, ob es auch Tage gibt, an denen er es auf eine 7 oder 6 schafft und wie er das erreicht. Dann fragt sie ihn, wie er seine Zeit verbringen würde, wenn er bei einer Drei stünde. Um den Klienten weiter an das Thema Ressourcen heranzuführen, werden ihm Bilder von einer Zapfsäule und einem Windrad gezeigt. Die Betreuerin fragt ihn, ob er wisse, wozu diese wichtig seien. Sie hat außerdem verschiedene Bildkarten mitgebracht, die für verschiedene Ressourcen stehen: zum Beispiel für Zusammenhalt, Freude, Liebe, Mut, Humor und Akzeptanz. Gemeinsam mit dem Klienten erstellt sie ein Genogramm der Familie, eine bildliche Darstellung der Beziehungen im Familiensystem. Die Bildkarten werden dazu genutzt, Ressourcen innerhalb der Familie ausfindig zu machen.

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Systemisches Arbeiten kurz erklärt

Seit 2020 ist der Bereich „Erziehung & Beratung“ der Diakonie Düsseldorf nun mit dem Qualitätssiegel der Systemischen Gesellschaft e.V. zertifiziert. Dafür haben rund 400 Führungskräfte und Mitarbeitende des Bereichs eine Systemische Weiterbildung bei einem Fortbildungsinstitut der Systemischen Gesellschaft und/oder der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) durchlaufen. Doch was bedeutet "Systemisches Arbeiten" eigentlich genau? Das erläutern wir in diesem Erklärfilm.

Systemische Gesellschaft – Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e. V.


Die Systemische Gesellschaft feiert in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Sie wurde von Vertreter*innen verschiedener Institute für Systemische Therapie und Familientherapie gegründet und besteht heute aus 50 Weiterbildungsinstituten und weit über 5.000 Einzelmitgliedern. Ihr Ziel ist es, systemisches Denken und Handeln in allen Bereichen, in denen es um die professionelle Entwicklung und Gestaltung von Kommunikations- und Problemlösungsprozessen geht, zu fördern.