Lernen im virtuellen Raum

Warum in den Heilpädagogischen Tagesgruppen VR-Brillen im Einsatz sind

Matthias Hainski leitet eine heilpädagogische Tagesgruppe der Diakonie und hat ein Konzept zum Spielen mit VR-Brillen entwickelt. Im Interview erklärt er, wie die Brillen in den Gruppen zum Einsatz kommen, warum Kinder mit VR-Brillen oft besser lernen, als mit einem herkömmlichen Schulbuch und  worauf Eltern bei den Spielen ihrer Kinder achten sollten. 

Herr Hainski, in den Heilpädagogischen Tagesgruppen können Kinder und Jugendlichen sich mit einer VR- bzw. AR-Brille jetzt auch im digitalen Raum bewegen. Hängen die Kinder nicht schon genug vor dem Bildschirm? 

Ihre Bedenken sind verständlich; die Nutzung von Smartphones, PCs und Konsolen ist bei Kindern in der Tat zu hoch. Aber VR-Brillen erzeugen nicht den Effekt, dass Kinder stundenlang regungslos vor einem Bildschirm verharren. Im Gegenteil, VR-Brillen fördern die Bewegung der Kinder. Und Studien deuten darauf hin, dass das Lernen in VR - im Vergleich zum Lernen mit einem herkömmlichen Schulbuch - zu einer besseren Speicherung von Informationen im Gehirn führen kann. Denn die Verbindung von visuellen, auditiven und kinästhetischen Elementen ermöglicht es den Kindern, Informationen auf vielfältige Weise aufzunehmen.

Zudem haben wir in den Tagesgruppen Kinder, die in der virtuellen Welt plötzlich Dinge schaffen, die sie in der realen Welt vielleicht nicht schaffen. Ein einfaches Beispiel: Einen hohen Turm aus Klötzen zu stapeln. Ein Kind mit ADHS könnte in der realen Welt die Aufgabe, einen hohen Turm mit Klötzen zu stapeln, möglicherweise nicht bewältigen, aber in der virtuellen Welt gelingt es ihm. Die positive Erfahrung, etwas erreicht zu haben, kann sich dann auf die reale Welt übertragen. Dies kann man auf alle möglichen Erfahrungen erweitern. Ob es nun um das Klettern an einer Bergwand, trotz Höhenangst geht; das Sprayen an einer Hauswand, was in der realen Welt verboten ist oder das virtuell angeleitete Musizieren auf dem Schlagzeug. Die Möglichkeiten sind enorm und werden kontinuierlich weiterentwickelt.

Können sich Kinder da nicht schnell in der virtuellen Welt verlieren? 

Diese Sorge ist durchaus berechtigt, insbesondere wenn die Nutzung ohne angemessene Begleitung erfolgt. In unseren pädagogischen Tätigkeiten mit den Kindern im digitalen Raum folgen wir jedoch einem klar strukturierten medienpädagogischen Konzept. Das bedeutet, dass wir die Kinder während ihrer virtuellen Aktivitäten eng begleiten und sicherstellen, dass die Zeiten und Inhalte des Spielens angemessen sind.

Bei der Verwendung von VR-Brillen setzen wir stets pädagogische Ziele, es handelt sich nicht einfach um eine weitere Methode des ungezügelten Spielens. Unsere Pädagog*innen machen sich im Vorfeld erhebliche Gedanken, welche Inhalte für jedes Kind sinnvoll sind. Teilweise wird auch individuell betrachtet, welche Bedarfe und Bedürfnisse das einzelne Kind hat und ob es geeignete Software oder Spiele gibt, die seine Entwicklung unterstützen können. In vielen Fällen sind wir zudem die einzige Instanz, die die Spielzeiten der von uns betreuten Kinder reguliert. Daher ist es für uns von besonderer Bedeutung, nicht nur als regulatorisches Element zu fungieren, sondern auch als positives Beispiel zu dienen, klare Rahmenbedingungen zu setzen und den pädagogischen Zweck der virtuellen Aktivitäten zu erklären.

Wie regulieren Sie das Spielen? 

Das Spielen mit der VR-Brille ist bei uns ein besonderes Angebot, welches zeitlich und quantitativ begrenzt ist. Auch geben wir den Kindern die Möglichkeit, dass sie sich das Spielen, durch ein Belohnungssystem, „erarbeiten“ können. Wir sagen zum Beispiel: „Wenn du diese Woche dieses oder Jenes geschafft hast, dann können wir am Freitag gemeinsam virtuell boxen." Die Programme variieren natürlich je nach Kind. Ob wir ein Programm aus dem Bereich Kreativität, aus dem Bereich Bildung oder aus dem Bereich motorische Förderung wählen, hängt von den Lernzielen ab, die wir bei den Kindern verfolgen. Natürlich machen den Kindern Programme aus dem Bereich motorische Förderung, wie beispielsweise Klötze mit einem Laserschwert zerschlagen (z.B. beim Spiel „BeatSaber“), aber am meisten Spaß. 

Warum beziehen Sie zum Teil auch die Eltern ins Spiel ein? 

Die Einbindung der Eltern in die Nutzung der VR-Brille ist für uns ein gezieltes Instrument, um die Bindung zwischen Eltern und Kindern zu stärken. Die Faszination der Brillen weckt das Interesse der Eltern, die oft gerne die Möglichkeit nutzen, sie selbst auszuprobieren. In vielen Fällen konnten wir Mütter aktivieren, gemeinsam mit ihren Kindern in digitale Welten einzutauchen, obwohl sie zuvor noch keinerlei Erfahrungen mit dieser Art von Medien gemacht hatten. Die Kinder waren begeistert, dass ihre Mütter plötzlich mit ihnen spielten. Dabei haben wir die VR-Brillen immer zunächst mit den Eltern ausprobiert, um sicherzustellen, dass sie einen Wissensvorsprung vor den Kindern hatten. Auf diese Weise konnten die Kinder ihre Eltern als kompetente Personen erleben, die ihnen helfen können und ein Verständnis für die technologischen Entwicklungen ihrer Zeit haben.

In Familien, die wir unterstützen, ist das Familienleben häufig von Spannungen geprägt, und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern oft von Problemen belastet. Durch die VR-Brillen haben wir den Eltern eine weitere Möglichkeit gegeben, die Lebenswirklichkeit ihrer Kinder besser zu verstehen und gemeinsam mit ihnen positive Erfahrungen zu machen. Diese Erfahrungen haben sich teilweise auch positiv auf das Zusammenleben zu Hause ausgewirkt. Das Angebot wird häufig als „Prime-Time“ mit dem Kind empfunden und es gab in der Vergangenheit viel positive Rückmeldungen. 

Was würden sie Eltern generell zum Umgang mit VR-Brillen raten? 

Ich empfehle immer, dass Eltern aktiv die Spiele ausprobieren, die ihre Kinder spielen, und zwar jedes einzelne. Dies ermöglicht es den Eltern, den Inhalt und die Natur der Spiele zu verstehen. Es ist mir bereits begegnet, dass achtjährige Kinder zu Hause Spiele wie GTA gespielt haben, ein Spiel, das erst ab 18 Jahren freigegeben ist. Die Kinder haben ihren Eltern das Spiel als Autospielrennspiel verkauft und natürlich verschwiegen, dass es hauptsächlich um die Darstellung von Gewalt und sexualisierten Inhalten geht. Eltern, die die Spiele ihrer Kinder selbst spielen, können besser nachvollziehen, was ihre Kinder am virtuellen Spielen faszinierend finden, und so einen konstruktiven Dialog mit ihnen führen.

Außerdem kann es sinnvoll sein, auf der Website spieleratgeber-nrw.de nach Informationen zu recherchieren. Dort sind für nahezu alle auf dem Markt verfügbaren Programme, kurze Zusammenfassungen zum Inhalt, Altersfreigaben und pädagogische Wertungen verfügbar. Zudem ist es ratsam, klare Spielregeln für die Zeit zu Hause festzulegen und diese als "Prime Time" zu deklarieren. Die Eltern sollten klar kommunizieren, dass es eine festgelegte Zeit gibt, in der das Spielen innerhalb bestimmter Grenzen erlaubt ist, und dass diese Zeit und die Rahmenbedingungen von den Eltern bestimmt werden, nicht von den Kindern oder dem Umfeld.

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