Meine Freundin, die Depression

Victoria Müller sieht in ihrer Erkrankung eine gute Beraterin, Kritikerin, Managerin und auch eine Freundin

Titelfoto: Hannah Busing on Unsplash

Ein Gastbeitrag von Victoria Müller

Meine Freundin, die Depression. Das klingt für viele Menschen wie ein schlechter Scherz. Ein übergeschnappter Euphemismus. Viel zu versöhnlich, viel zu positiv. Freundschaften beruhen schließlich auf gegenseitiger Sympathie, Empathie und Zuneigung, sie geben uns Kraft. Eigenschaften, die man mit einer derart zerstörerischen Erkrankung nicht in Verbindung bringen mag. Dennoch habe ich mich vor einigen Jahren dazu entschieden, meinen Erfahrungsbericht über meine eigene Erkrankung genau so zu nennen. Der Weg zum freundschaftlichen Verhältnis war genauso steinig, anstrengend, aufreibend und emotional wie die vielen verschiedenen Behandlungen, der Heilungsprozess und die beschwerlichen Versuche, die dunklen Wolken aus dem Kopf zu vertreiben.

Irgendwann kommt der Tag, an dem man sich nicht mehr verleugnen kann.

Plötzlich war die Diagnose da, die Krankheit gab es schon davor. Als das Schreckgespenst der Lethargie einen Namen hatte, wollte ich mich damit nicht identifizieren. Fehldiagnose! Das war meine Vermutung. Auch mein Umfeld spiegelte mir mein Misstrauen gegenüber dem ärztlichen Befund. Jung, erfolgreich, attraktiv – diese Attribute schrieb man mir zu. Krank, vor allem psychisch, gehörte nicht dazu. Es passte nicht ins Bild der Karrieristin, der aufstrebenden Studentin, der TV-Persönlichkeit. Auch nicht ins Selbstbild. So hielt ich die Diagnose stets möglichst weit von mir entfernt. So lange, bis es nicht mehr ging. Irgendwann kommt der Tag, an dem man sich nicht mehr verleugnen kann. In Zusammenarbeit mit einigen Therapeutinnen habe ich begonnen, mich mit der Thematik zu befassen. Dabei fühlte ich mich stets wie eine kleine Zwiebel, die erst mal ordentlich Schale lassen musste, bevor man an den Kern kam. Jede Therapiestunde, jede Selbstreflexion, jeder klare Moment brachte mich ein Stück weiter zum Kern, also mir selbst. Der wichtigste Schritt im Heilungsprozess war die Selbstakzeptanz. Ich gehöre nun mal zu jener Gattung Mensch, die anfällig für depressive Episoden sind. Man mag es melancholisch oder psychisch krank nennen, einige haben Vorurteile, andere verstehen meine Person nun besser. Doch diese Fremdbewertungen wurden abgelöst von dem Gefühl, auch mit dieser Disposition ein liebenswerter Mensch zu sein. Der Weg zum inneren Frieden mit einer Krankheit, die, obwohl man sie nicht sehen kann, vorhanden ist, war der wichtigste Schritt im Umgang damit.

Die Depression ist eine gute Beraterin, Kritikerin, Managerin und für mich zur Freundin geworden.

Mein Name ist Victoria, ich habe Depressionen. Und das macht mich zu keinem besseren und vor allem nicht zu einem schlechteren Menschen. Heute betrachte ich die Erkrankung anders. Denn inzwischen hat mein seelischer Zustand eine Art Kompassfunktion. Die Depression ist eine gute Beraterin, Kritikerin, Managerin und für mich zur Freundin geworden. In guten Freundschaften sollte es möglich sein, die eigenen Verhaltensweisen auch mal kritisch zu betrachten, sich ehrliches Feedback geben zu können, schonungslos ehrlich zu sein. Wenn die mentalen Alarmglocken schrillen, der Kopf ins Grübeln gerät, der Körper lethargisch wird, dann möchte mir meine Freundin etwas sagen. Nämlich, dass ich auf mich aufpassen muss, meine Bedürfnisse ernst nehmen sollte und im Zweifel Hilfe in Anspruch nehmen kann. Die Karrieristin kann genau wie die aufstrebende Studentin auch Depressionserkrankte sein. Seitdem ich die Widersprüchlichkeit meiner eigenen Person anerkannt habe, kann ich friedvoller und gütiger mit mir selbst umgehen.

Victoria Müller ist (Radio-)Moderatorin, Bestseller-Autorin, Tierrechtsaktivistin, Philologin, angehende Historikerin – und Botschafterin für die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Sie wohnt in Berlin.

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