Systemsprenger

Wie der scheinbar unmögliche Wunsch von den eigenen vier Wänden möglich wurde
 

Autor: Jaroslaw Janneck

Thomas Märger hat eine kognitive Behinderung. Das Leben in den eigenen vier Wänden war für den 50-Jährigen lange undenkbar. Doch in speziellen Wohngruppen fand er sich auch nicht zurecht – immer wieder musste er die Wohngruppe wechseln. Bei In der Gemeinde leben – Hilfen für Menschen mit Behinderungen (IGL) hat er endlich ein Zuhause gefunden.

Der Weg zum Systemsprenger

Thomas Märger liebt es, Rätsel zu raten, und schaut gern den Flugzeugen am Flughafen beim Starten und Landen zu. In den letzten Jahren fiel der 50-Jährige jedoch immer wieder durch Verhaltensweisen auf, die andere an Grenzen bringen. In den verschiedenen Wohngruppen, in denen er nach einem Unfall wegen seiner erworbenen Hirnschädigung lebte, war er häufig in Konflikte verwickelt. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen wie Thomas Märger stehen meist nur Wohnangebote in Form von Wohngruppen oder Wohngemeinschaften zur Verfügung, in denen vieles durch die Gemeinschaft vorgegeben wird. Viele Menschen finden sich in der Gemeinschaft gut zurecht. Für Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich anzupassen, kann das Wohnen in der Gruppe aber Konfliktpotenzial bergen. Und so scheiterte Thomas Märger immer wieder: Seine Aggressionen beeinträchtigten das gemeinschaftliche Leben in den Wohngruppen so stark, dass er nie lange an einem Ort bleiben konnte. Er wurde zum sogenannten Systemsprenger.

Eine zweite Chance

Für Märger wäre es eigentlich das beste gewesen, sich selbst auszusuchen, wie er wohnen möchte. „Doch die Unterbringung in einer Einrichtung für Menschen mit kognitiven Einschränkungen wird in den seltensten Fällen von der Person selbst entschieden, die dies betrifft. Oftmals muss aus Mangel an Alternativen ein bestimmtes Angebot genommen werden, in dem es gerade freie Kapazitäten gibt“, erläutert Andreas Diederichs, Geschäftsführer der IGL, das Problem. „Laut der UN Behindertenrechtskonvention soll Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung ermöglicht werden. Dies ist aufgrund von steigenden Mieten und knappem Wohnraum in Ballungsräumen aber leichter gesagt als getan.“ In der Gemeinde leben hat darauf reagiert – und Thomas Märger eine zweite Chance gegeben. Im Rahmen eines inklusiven Wohnprojektes in Kooperation mit der Düsseldorfer Rheinwohnungsbau bekam Thomas Märger die Chance, ein eigenes Apartment zu beziehen und die benötigte Unterstützung im eigenen Zuhause zu erhalten. Ein jahrelanger Wunsch Märgers wurde wahr.

Ab ins eigene Apartment

„Unsere Mitarbeitenden haben viel diskutiert, ob das Leben in einer eigenen Wohnung für Thomas Märger in Frage kommt“, sagt Maren Weiner, die Leitende der ambulanten Dienste der IGL. „Doch der Grundsatz unseres Apartmentwohnens lautet: So wenig wie möglich und so viel wie nötig!“ Und so sollte auch Thomas Märger die Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, wie er wohnen möchte – mit allen Vor- und Nachteilen. Seit zwei Jahren lebt Märger nun in einem eigenen Apartment. Dort darf und muss der 50-Jährige nun viele kleine Entscheidungen des täglichen Lebens selbst treffen.

Den Alltag meistern

Was ziehe ich an? Was kaufe ich ein? Wie möchte ich meinen Tag gestalten? Thomas Märger nimmt sehr gern an tagesstrukturierenden Angeboten teil, vergisst aber auch schon mal, sich vor dem Verlassen des Hauses die Zähne zu putzen oder zu prüfen, ob die gewählte Kleidung ihn am besten vor Regen schützt. Deshalb bekommt er entsprechend seines Bedarfs individuelle Unterstützung durch ein Team aus unterschiedlichen Fach- und Hilfskräften, die rund um die Uhr erreichbar sind. In ein eigenes Apartment zu ziehen, heißt jedoch nicht nur, viele Dinge selbst zu meistern und zu entscheiden. Dazu gehört auch, viele Situationen allein zu erleben und mit dem Alleinsein in der Wohnung umzugehen. Doch auch diese Hürde hat Thomas Märger gemeistert.

Vom Systemsprenger zum Nachbarn

Er macht auf Menschen, die ihn von früher kennen, einen viel ausgeglicheneren Eindruck. Er selbst stellt fest: „Ich möchte hier wohnen bleiben. Ich will nicht zurück.“ Wenn Thomas Märger nun morgens aus dem Haus geht, grüßt er die anderen Hausbewohner freundlich, manchmal bleibt er auch stehen, um sich kurz zu unterhalten. Aus dem Systemsprenger ist ein Nachbar geworden.